02 April 2008

Die Schuldfrage

"Die Europäer lösen die Schuldfrage, die Japaner das Problem."
(Nippon Connection)

Ein Filmwitz, ist man versucht zu sagen. Aber lässt man diesen Ausspruch auf der Zunge zergehen, beschreibt er in einer beängstigenden Aktualität auch das Verhalten der SM-Szene.

In Diskussionen über Vergewaltigungen, Covern und extreme Praktiken des SM steht ständig und unbeirrbar eine Maxime ganz oben: Hat man die Frage der Verantwortung oder der Schuld gelöst, ist auch das Problem damit verschwunden. Es scheint sich so in die Köpfe der Menschen eingeschliffen zu haben, dass niemand mehr dieses Prinzip auch nur für fragwürdig hielte. Dabei ist es mehr als das.

Ein Problem zu lösen, beinhaltet weit mehr als bloß einen Schuldigen auszugucken und ihm die Verantwortung aufzuladen. Die er dann am liebsten mit Verzicht auf Beziehung, Spiel oder dergl. "übernehmen" muss. Politiker nehmen gern den Hut, Partner ziehen aus oder Täter werden verurteilt. Das Problem an sich scheint dann mit der Ausmerzung des Protagonisten magisch verdunstet zu sein.

Gerade in hochsensiblen Bereichen zwischenmenschlicher Aktivität greift dieses Prinzip zu kurz. Verheiratete wissen, dass es nicht genügt, herauszufinden, wer schuld war, um einen Streit zu beenden. Spielbeziehungen gehen nicht kaputt, weil einer etwas "falsch gemacht" hat.

Ist die Klärung der Schuldfrage, die unsere Kultur anscheinend zum höchsten Gut erkoren hat, tatsächlich konstruktiv? Reicht es, bei einer Panne das schwächste Glied auszumachen und zu bestrafen? Ist das ein Garant dafür, dass so etwas nicht mehr vorkommen wird? Die Annahme dahinter erscheint wie ein Ableger aus dem Mittelalter.

"Alles läuft per se perfekt, es sei denn, einer macht etwas verkehrt. Merzt man den Fehler aus, läuft es wieder perfekt." Der Glaube daran, dass alles reibungsfrei funktioniert, wenn keiner einen Fehler macht, verdammt uns zu ewigen Misserfolgen und Schuldzuweisungen.

Nichts läuft auf Dauer reibungsfrei. Aber noch schlimmer als der Gedanke, dass nicht alles perfekt läuft, wenn man keine Fehler macht, ist wohl die Erkenntnis, dass Dinge schieflaufen können, ohne dass jemand konkret daran schuld sein kann. Der "horror vacui" der modernen Zivilisation manifestiert sich in der verzweifelten Suche nach den Schuldigen, wo es keine gibt.

Tritt die Elbe über die Ufer, ist das Land schuld, der Bund, die Menschheit, die Nachbarn, die gegen die Schutzmauer geklagt haben oder schlicht die Regierung, die wieder alles falsch gemacht hat. Stürzt ein Flugzeug ab, so ist ein Konstruktionsfehler schuld, menschliches Versagen oder eine technische Panne. Geht ein SM-Spiel schief, so ist der DOM schuld oder die Peitsche, die nicht so wollte, wie sie sollte. Gerät eine Party zum Flop, ist das Buffet schuld, das Wetter, die Werbung oder dergleichen.

Auch die Partnersuche und das Erleben von SM werden bestimmt durch einen Perfektionsanspruch, der sich dann wieder in Schuldzuweisungen manifestiert. Viele Menschen sind nicht bereit, Abstriche von ihren Erwartungen hinzunehmen, ohne das mit einer Schuldzuweisung zu verknüpfen. Diese äußern sich dann entweder in Selbstzerknirschung ob der Schwierigkeit der Partnerwahl oder in offener Schuldzuweisung an den Partner, der "nicht genügt". Die perfekte Session geistert durch die Köpfe als Optimalfall, für den man nur den Spielpartner finden müsste, der alle Erwartungen erfüllt.

Dahinter steht die nackte Angst, anzuerkennen, dass es vielleicht keinen Schuldigen gibt, sondern dass solche Dinge passieren, so oder so. Die Panik, Widrigkeiten ausgeliefert zu sein, die man nicht beherrschen, optimieren oder ausmerzen kann. Im SM-Bereich verbauen die hochgesteckten Erwartungen an Sessions und Partnerschaften oft jede Entwicklung von offensichtlich noch nicht so perfekten Beziehungen. "Mit wenig zufrieden" gerät mehr und mehr zum Schimpfwort für Menschen, die keinen illusionären Zielen hinterherrennen, sondern lediglich im Hier und Jetzt glücklich sind.

Überschwemmungen gab es und wird es immer geben. Flugzeuge stürzen hin und wieder ab, SM-Spiele gehen daneben, so oder so, und Parties können durchaus "einfach so" zum Flop werden.

Ist einem Opfer geholfen, wenn die Schuldfrage geklärt ist? In vielen Fällen ist diese Annahme Wunschdenken. Der blaue Fleck auf den Nieren wird nicht kleiner, wenn klar ist, dass der DOM danebengehauen hat. Und er wird auch nicht kleiner, wenn klar ist, dass die sub sich derart dusselig gebückt hat in dem Moment des Schlags, dass sie das verursacht hat.

Warum verteilen wir Schuld mit großen Schaufeln, sobald irgendetwas in unserem Leben "suboptimal" läuft? Ist es nicht eher zu erwarten, dass unsere hochgesteckten Erwartungen sowieso nicht erreicht werden? Kompensieren wir unsere immer höher gesteckten Ziele mit der Illusion, man hätte sie erreicht, wenn nicht irgendwer einen Fehler gemacht hätte?

Es drängt sich der Eindruck auf, dass viele Menschen ihre Verantwortung bei der Problemlösung darin sehen, die Schuldfrage zu klären. Dass das Problem verschwindet, wenn man den Schuldigen gefunden hat. Das entbindet nebenbei davon, sich eigenverantwortlich an der Lösung desselben beteiligen zu müssen, denn man ist mit dem Fingerzeig auf den/die Schuldigen vermeintlich komplett entlastet.


© Lady Nicole
eMail: TV76@gmx.de



Ganz lieben Dank, dass ich Deinen 2006 erschienen Artikel hier veröffentlichen darf!

*knickskiss*
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1 Kommentar:

Don de Marco hat gesagt…

Also der Filmwitz regt schon ziemlich an. Und wie immer ist es der Witz, der einem die Entspannung gibt wirklich zu denken, zu erkennen bzw. sich der Erkenntnis zu öffnen.

Am Anfang steht noch ein kleiner Denkfehler - "Frage der Verantwortung oder der Schuld". Also die Fragen nach Verantwortung oder Schuld sind zwei verschiedene Fragen, die strikt zu trennen sind. Wie Japan und Europa. Darin liegt der erste Denkfehler der europäischen Kultur.

Schuld ist alttestamentarisch und unfruchtbar. Sie ist die Perpetuierung des Problems - mit immanenter Steigerung desselben. Wer so denkt will Krieg und Zerstörung. womöglich aus persönlicher Eitelkeit oder Unsicherheit bzw. Unvermögen.

Ein Problem zu lösen bedeutet auch die Übernahme von Verantwortung für Dinge, die man nicht einmal selbst "verbrochen" hat. Alles kaputt zu schlagen ist einfach, aber auch einfach Unfähigkeit am Leben.

Und genau das lernt man in dauerhaften Beziehungen. Wenn Krisen überwunden worden sind. Aber wer hat heute schon noch die Ausdauer oder "Bock" Krisen zu überwinden? Wozu soll das Ganze denn gut sein, wenn man auch wegrennen kann? Und ja. Die Annahmen kommen aus dem geistigen Mittelalter, dem mechnistischen Weltbild.

Gott erhalte mir meinen Wahn - den Perfektionismus. Er führt immer zum Scheitern, weil es Perfektion oder Ideale auf dieser Welt nicht gibt. Sie sind in der Natur einfach nicht vorgesehen. Also eine äußerst hoffnungslose Illusion.

Wer Fehler nicht als Beginn des Wegs der Erkenntnis versteht, als notwendige Bedingung des Wachstums, und perfektionistische Zustände im Leben sucht, der hat eigentlich schon jede Hoffnung verloren. Ohne es allerdings zu wissen.

Und wenn selbst die Liebe an sich als etwas "höchst unwahrscheinliches" angesehen wird (Luhmann - Liebe als Passion), wie soll es sich dann mit der Wahrscheinlichkeit bei einer Minderheit mit hochausdifferenzierten Vorlieben verhalten? Aussichtslos wäre da sicher ein zu milder Begriff dafür.

Glücklich ist man nur im hier und jetzt. Auch wenn man sich mit "wenig zufrieden gibt". Genau das ist der Kern. Sich mit wenig zufrieden zu geben und bereit sein ZUSAMMEN zu wachsen. Nicht anders verhält es sich auch mit der herkömmlichen Liebe. Sie wird nur durch die gegenseitige Bezugnahme, auf die/den geliebten überhaupt erst denkbar oder wahrscheinlich.

Von daher kann man die Ingnoranten (Perfekten) weiterhin ihre Luftschlösser bauen lassen - arme Irre!

Und der blaue Fleck auf den Nieren? Der ist natürlich übel für beide. Für den der ihn angerichtet hat und für den der ihn hat. Aber da bleibt nur dasselbige auch auszusprechen. Es gibt nur diese einfache Möglichkeit. Lösungen gehen nie um Schuldzuweisungen. Lösungen beginnen immer damit, dass man seine persönlichen Gefühle ausdrückt. Und auf keinen Fall mehr.

Verteilen von Schuld ist immer persönliche Schwäche. Frage nicht, was Deine Sub für Dich tun kann - frage Dich, was Du für Deine Sub tun kannst. Frage Dich, was Du für sie tun kannst, damit sie zu Deinen hochgesteckten Zielen geführt wird.

Verantwortung bedeutet immer die Frage, was kann oder muss ich tun, damit die Welt so wird wie sie in meiner Illussion besteht? Verantwortung wahrnehmen bedeutet dann genau dies zu tun.

Und die Schuld? Die schicken wir zurück ins Mittelalter oder in die Steinzeit wo sie hingehören. Aber wir stecken sie nicht in diese traumhafte Welt von morgen, in der wir leben wollen. Dafür hat sie schon zuviel Zerstörung und Verderben über die Menschheit gebracht.