11 Juni 2008

Die Kritik

In dieselbige ist sie gekommen, die Kritik.
Sie sei unfair, herabwürdigend, diffamierend oder schlicht unbegründet. Oder sie sei vom falschen Ort abgeschossen und damit ungültig, auf die falsche Scheibe gezielt oder übers Ziel hinausgeschossen. Die Kritik, die arme, sie kann nichts richtig machen, sie wird nur kritisiert. Am Ende wird sie sogar mit ihrer Stiefschwester, der Krittelei, verwechselt.

Woher kommt das?
Kritik ist das einzige Mittel zur Fortbewegung im Leben. Kritik schärft die Sinne, verbessert, zeigt Schwächen, bringt Entwicklung. Durch die Rückmeldung der Kritiker erfährt der Künstler etwas über sich und seine Kunst.

Warum also Kritikfeindlichkeit?
Jede Kritik ist ein Angebot. Manche kommt verzehrfertig, andere wie eine steinharte Nuß, aber in jeder Kritik kann man ein Nugget Konstruktivität entdecken.

Ist eine Subkultur, die vor der Diskriminierung flüchtet, gleichzeitig kritikunfähig?
Der Schluß liegt nahe. Denn der Kurzschluß von der Kritik zur Diskriminierung ist populär. Kritisierte verstecken sich zu oft hinter dem Vorwurf der Diskriminierung, um die Kritik als solche nicht ernst nehmen zu müssen.
Schreibt jemand, das Bild sei unglücklich getroffen, so kommt oft der Ruf, man diskriminiere das übergewichtige Model. Schreibt jemand, er sei von der Sprachwahl nicht begeistert, diskrimiert er unter Umständen Legastheniker.

Besonders die Randgruppe der Transgender macht es sich leicht, bei fast jeder aufkeimenden Kritik sofort wild und unkontrolliert mit der Diskriminierungsfloskel zu wedeln.

Eine deutsche Eigenschaft ist es hingegen, bei Kritik sofort nach der Legitimation zu fragen. Denn die ist nur bei Brief und Siegel gegeben, am liebsten nur mit Unterschrift vom Bundespräsidenten und den Vorsitzenden der Nobelpreisjury, der IHK und dem Lions Club.
Findet man keine Diskriminierung in der Kritik, so sehr man auch sucht, hat man immer noch die Chance, das Gegenüber als unqualifiziert abzutun. Unqualifizierte Kritik ist noch schlechter, noch ungehöriger und mit noch schlechteren Kritiken zu bedenken als Kritik an sich.
Wer kritisiert, ohne verbriefte Ahnung zu haben, der wird im Rachefeldzug des Kritisierten gleich mit lächerlich gemacht.

Überhaupt kommt Kritik bei Menschen mit übergroßem Ego generell nicht an. Manche Menschen flüchten sich lieber in die abstrusesten Argumentationen und polieren hochfahrend ihr Ego, nur um davon abzulenken, daß auch sie kritisierbar sein könnten.
Man startet Diffamierungsfeldzüge, liefert sich blutige Wortschlachten und kündigt sogar manche Freundschaft, nur um das Gesicht vor sich selbst zu wahren.

Veranstalter in der Kritik fahren alles auf, um sich zu rechtfertigen, die vermeintliche Schuld wird munter hin- und hergeschoben, am Ende war es das Wetter, die Weltwirtschaft, die Verschwörung der neidischen Konkurrenten oder der falsche Zeitpunkt.

Warum?
Weil Kritik heißt, man sei nicht fehlerlos? Weil Fehler bedeuten, nicht perfekt zu sein?
Weil nicht perfekt zu sein der eigene Selbstheiligkeit schadet?

Das ist der Kernpunkt des Problems.
Unsere Gesellschaft und besonders die davor geflüchtete Subkultur ist so getrimmt auf das "Null-Fehler-Prinzip", das ich manchmal mit dem englischen Slogan "Only zero failure is acceptable failure." umschreibe.
Wer nicht perfekt ist, fällt durchs Sieb.

Gerade die Menschen, die mit Stolz für ihre Leistungen einstehen, schriftlich, fotografisch oder auf anderen Bereichen, können gelassen auf Kritik reagieren, indem sie das Aschenputtelprinzip anwenden: "Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen."
Sich aus der Masse der angebotenen Kritiken die herauszusuchen, sie beachtenswert scheinen und sie zu verinnerlichen und jene, die einem selbst nicht beachtenswert scheinen, zu ignorieren, fällt vielen schwer.
Kritik birgt ein Samenkorn der Diskussion, aber kein Damoklesschwert der Legitimation. Kritik bedeutet nicht, sich rechtfertigen zu müssen. Es zeigt vielleicht, daß man mißverstanden wurde, und das kann man mit Klärung beheben.

Aber die bemühte Rechtfertigung kreist um das obige Prinzip: "Wer kritisiert, hat mich nicht verstanden, denn eigentlich bin ich so perfekt, daß es nichts zu kritisieren gibt."

Hier zeigt sich der dritte Fehlschluß. Viel zu oft mißverstehen Kritisierte die Rückmeldung zu ihrem Werk, ihren Handlungen oder ihren Worten als generellen Angriff auf sich selbst. Viel zu oft hören Menschen lieber, daß man sie nicht mag, als daß man ihre Argumentation nicht schlüssig findet.
Wer den Schreibstil eines Autors bemängelt, beleidigt ja damit nicht seinen Intellekt. Nur, wenn jener ein Kleingeist ist...
Wer mit moderner Kunst nichts anfangen kann, hält ja nicht alle Künstler für Idioten. Genügend Künstler halten jedoch alle, die ihre Werke nicht mögen, für unfähig, sie in ihrer Genialität zu durchschauen.
Aber es ist einfacher, die Kritik zu überhören, wenn man sie als Angriff gegen sich selbst versteht. Man kann sich wunderbar streiten und vom eigentlichen Kritikpunkt ablenken, indem man sich köstlich darüber aufregt, angegriffen zu werden, wobei die Sachkritik meist schnell unter dem Teppich verschwindet.

Als viertes Standbein der unlauteren Kritik können immer psychische Störungen gelten. Sofern man solche hat, ist man fein raus. Psychische Leiden sind fast immer eine perfekte Möglichkeit, den Kritiker ins Unrecht zu setzen. Legitimation, Entschuldigung, Erklärung oder schlicht Freifahrtschein, egal, eine psychische Störung kann für alles gut sein. Und sie ist schnell zur Hand, wenn Kritik kommt, um sie mundtot zu machen. Sei es durch die Kritik an der Kritik selbst: "Wie kannst du nur so taktlos sein und mein Gedicht kritisieren, wo du weißt, daß ich suizidgefährdet bin?" oder durch die hohnlächelnde Berufung auf die Krankheit: "Ich kann nun mal nicht anders, ich bin eben acrocalciphob, da kann ich nicht auf Heels gehen."
Passende Störungen sind sehr en vogue heute, jeder findet sicher eine, die paßt. Vor 150 Jahren hätte man gesagt: "Die Nerven sind's."

Die ständige Kritik an der Kritik führt dazu, daß viele Menschen die Angebote einstellen. Das fällt sogar niemandem mehr auf. Die Zeiten scheinen vorbei zu sein, in denen unter Bildern Komposition, Technik oder Motiv diskutiert wurden. Aus Angst, durch Kritik in die Kritik zu geraten, beläßt man es bei einem aussdrucksstarken "Wow", vielleicht noch ergänzt um ein Lob ob des Mutes des Einstellers oder seines Modells.

Die Zeiten scheinen vorbei zu sein, in denen Texte des Forums auf Stimmung, Inhalt und Aussage hin geprüft und kritisiert wurden. Gleiches für die Zeiten, als Kritik sich auf Argumente bezog und nicht sofort als Angriff auf Personen und Nicknamen mißverstanden wurde.

Stattdessen wird in jede Diskussion ein Liter Weichspüler gekippt, alles hat im Übermaß "political correct" zu sein, Rücksichtnahme wird allerorten gefordert und vor allem taktvoller Verzicht, wenn es darum geht, Negatives zu sagen. Natürlich gehen diese Forderungen aber vor allem in Richtung der ominösen "Anderen", die Forderer selbst fühlen sich von den eigenen Forderungen jedoch meist selbst gar nicht angesprochen.

An sich ist natürlich überhaupt gar nichts gegen einen höflichen Umgang miteinander oder gegen korrektes Verhalten einzuwenden. Aber zuviel Zucker schadet den Zähnen.

Wenn nahezu jeder kritische Diskurs zu großen Teilen sich nur noch um Mahnungen zu Verhaltensweisen dreht, statt um die Sache selbst, dann ist die Chance zur konstruktiven Kritik vertan.

So versumpfen jene, die das mitmachen, in einer Kultur der Verhätschelung, die auf dem Fleck stehenbleibt, weil sie sich nicht weiterentwickeln kann. Und die, die Kritik als Chance begreifen, sind die, die fix dem Sumpf entkrochen sind.

In diesem Sinn: eine Chance für die Kritik!



© LadyNicole
eMail: TV76@gmx.de

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